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disparate


[tabula rasa]

eine flasche wasser, die cd von arvo paert und meine kamera sind schnell eingepackt.
und einfach losfahren...
man nennt das ziellos in der gegend herumfahren [zu hause war es einfach nicht mehr auszuhalten].
endlich. nach so langer zeit. doch die leuchtenden herbstfarben sind vorbei. zu lange gewartet. zu lange aufgeschoben. zu spaet wieder. irgendwann ist es immer fuer irgendwas zu spaet. endgueltig.

grauer himmel, stahlfarbentrist. fast ohne zeichnung, irgendwie ausgebleicht, matt. so klingen auch die rufe der voegel: nach nahendem winter, nach schneeluft, kraftlos und duenn.
und einsam...

einen ort aufsuchen. am besten jenen, an dem die letzten bilder entstanden, mit denen ich einigermassen zufrieden sein konnte. hoffend, dass sich dort die inspiration von selbst wieder einstellen koennte...
sie tut es nicht [wie naiv, das anzunehmen]. kann es schon deshalb nicht, weil der ort einfach nicht mehr auffindbar ist. man koennte ihn auf einer karte suchen. es gibt fuer alles karten, jeder ort ist auffindbar. aber es ist zu spaet, die sonne geht schon bald wieder unter...

ich fahre durch landschaften und orte, deren namen mir nichts sagen. fahre einfach ohne ziel, der zufall bestimmt den kurs. auf der suche nach einem bild, das sich in meinem kopf eingestellt hat, bevor ich losgefahren bin:
zwei baeume in einsamer landschaft. genauer: zwei einsame baeume in einsamer landschaft. in einer genau festgelgten position zueinander. in genau definiertem abstand und in einer geste verharrend, die eine eindeutige stimmung vermittelt: beziehungslosigkeit in einem unendlich wirkenden raum. dann korrigiere ich dieses innere bild und reduziere das sujet auf einen baum. das passt irgendwie besser. der zweite baum wuerde eine moeglichkeit andeuten. eine, die den eindruck der beziehungslosigkeit zerstoeren wuerde. denn mit einem zweiten baum entsteht eine beziehung. ganz automatisch. auch wenn der eindruck entstehen koennte, dass es keine kommunikation zwischen den beiden...
mir faellt ein satz ein, von einem philosophen, der gesagt hat: es gibt kein nicht-kommunizieren. damit steht das bild fest. ein einsamer baum in einer unendlich wirkenden landschaft. den gilt es zu finden...
aber ich finde weder den baum noch die passende landschaft. und die zeit laeuft mir davon. vielleicht haette ich ohne dieses festgelegte bild im kopf losfahren sollen. ich fahre, und die zeit zerrinnt wie wasser zwischen den fingern, und mir wird mit einem schlag die unsinnigkeit meiner ganzen unternehmung bewusst. also nehme ich von meinem inneren bild abschied und fahre nur noch. ich fahre einfach, das fahren wird zum selbstzweck.
und irgendwann und irgendwo ein schmuckloses, graues dorf und ich sehe:
einen alten mann. tief gebueckt, sich auf seinen stock stuetzend. das laufen macht ihm unendliche muehe, das kann man sehen. ich kenne seinen namen nicht, und doch kenne ich ihn. er sieht zu mir her, ich schaue in sein runzeliges gesicht. er moechte mir etwas zurufen, so kommt es mir vor. er sieht irgendwie zufrieden aus.
ich bin es nicht.

warum ist manchmal alles so leer, die quellen des lebens so unendlich tief verschlossen und versiegelt?
„hoffnungslosigkeit sitzt an der wurzel wo das leben ist“. mir faellt dieser satz ein. er laesst mich seit tagen nicht mehr los. andere verzweifeln ja auch.
manchmal ist der faden einfach verloren. oder alles verworren und verheddert. wie in kindertagen jene flieger mit ihren blauen fluegeln und rotem rumpf, die in den stuermischen nordseehimmel hinaufgelassen wurden, hoeher und hoeher, bis sich die faeden hoffnungslos ineinander verhedderten und die flieger mit einem boesen, verzweifelten surren den so nicht erwarteten rueckweg nach unten antraten...
aber es gab dann immer einen geschickten onkel, der die faeden mit unendlich muehsamer geduld zu entwirren vermochte, die gebrochenen fluegel klebte. und so konnte das spiel von neuem beginnen...

im richtigen leben ist das irgendwie anders geregelt.
da bist du alleine mit den verhedderten faeden und den gebrochenen fluegeln und es hilft dir niemand und vielleicht kapitulierst du irgendwann.
alles verschwoert sich gegen das bischen leben, das geaengstigt in der ecke hockt und darauf hofft, dass es eine hoffnung geben koennte.
aber diese hoffnung ist ein trug und wir beide wissen es besser.

das leben ist manchmal so. man muss es nur aushalten. das ist die ganze kunst. oder die konsequenzen ziehen.

doch es faehrt sich gut mit vollem tank und irgendwie troestet das vorwaertskommen ueber die dunklen gedanken hinweg.
die landschaft ist nicht gerade berauschend, und ich fuehle bereits, dass es wieder keine bilder geben wird. die bilder kommen ja nicht einfach so zu dir. du musst dir sehr viel zeit nehmen, du musst sie finden durch zeitnehmen und meditation. und wenn du dich ihr mit deinem inneren chaos naeherst, verweigert sich dir die natur. sie gibt dir dann keines ihrer geheimnisse preis. sie sperrt dich einfach aus. sie laesst dich spueren, dass du ein eindringling bist in ihre geheiligten bezirke...

dann schaue ich aus dem fenster. links tut sich eine waldwiese auf mit einer baumgruppe. ziemlich schoen. ich beschliesse anzuhalten, um sie abzulichten.
sogar farben haengen noch in den baeumen. richtige herbstfarben. dieses flammende sterberotbraun. ich dachte, ich sei zu spaet fuer farben dieser kategoerie. und ueber der baumgruppe kreist sogar ein vogel. er muss unbedingt mit aufs bild, sonst ist es wertlos.

ein bild, wenigstens ein einziges. eine erinnerung, an eine sinnlose fahrt, an einem tag, der eigentlich herauslachen sollte aus dem kalender mit bunten luftballons und hellen kerzenlichtern. aber es ist ein tag wie andere auch. es koennte ebensogut ein anderer tag sein. ein anderes jahr. ein beliebiges. irgendeines...

es gelingt mir, das bild zu machen. die automatik funktioniert tadellos und zuverlaessig. vielleicht mochte der vogel mit auf dem bild sein. man wird sehen...

aber nichts troestet ueber das gefuehl hinweg, auch hier fremd gewesen zu sein, nur beobachter. und es ist wieder da, das gefuehl des ungeborgenseins, des verlorenseins...

zum glueck daemmert langsam der abend heran. mit maechtig beeindruckendem wolkengetoese. farbenprachtig. erst pastellblau. mit ockerfarbenen ausbuchtungen gegen die raender hin. fein abgestuft. diese ruhe, die sich ueber die landschaft legt, dieses licht, es tut fast weh. es ist, als wolle sich ein trost ueber den schmerz legen. kaum auszuhalten. aber ich liebe diese intensive stimmung des allmaehlichen entschwindens des tages in die nacht solange ich mich zurueckerinnern kann...
dann kommt es noch schlimmer.
blutrot.
muss das sein? an diesem tag? so heftig? so demonstrativ?
die natur kann grausam sein. sie zeigt dir ihre schoenheit und du kannst sie nicht bannen. weder auf film noch in dein gedaechtnis. es rauscht einfach durch dich hindurch. es bleibt nichts haften. es ist da und gleich wieder weg. du kannst es nur fuer einen winzigen augenblick fuehlen. aber nicht festhalten.

die musik von arvo paert. schmerzt mehr, als dass sie balsam ist fuer die wunden.
alles schmerzt. es ist wie immer.
es schmerzt. grenzenlos.

ich drehe die musik lauter. sie ist mir vetraut. sie schneidet ins fleisch. ins seelenfleisch. schneidet hinein lauter kleine muster aus sehnsucht und schmerz. schmiegen sich an mich. wie eine perfekt sitzende kleidung. nichts ist zu eng. oder zu weit. alles passt. hervorragend.

die musik von arvo paert [„fratres“] klingt jetzt wie ein kontrapunkt zur melancholischen melodie der landschaft, die fast nicht mehr erkennbar ist, nur schwarze silhouetten, vorbei an dunklen doerfern mit hell erleuchteten fenstern, von innen...
da scheint es gemuetlich zu sein, man erzaehlt sich von den muehen des tages. und von dingen, die die hoffnung naehren. jene hoffnung, das leben koennte gelingen und einen sinn ergeben. man spuert heimat zusammen. oder doch zusammengehoerigkeit wenigstens. vertrautsein. man ist zuhause. und demonstriert es denen, die nicht dazugehoeren, mit diesen heimeligen lichtern durch die fenster. das legt abstand. das laesst spueren: wir. nicht du.
du musst weiter.
fahr du doch auch nach hause.

ja
ich fahre. nach hause
mit meinem bild im kopf
von einer landschaft, die mir fremd geblieben ist. wie alles.
wie immer
immer bleibt alles fremd
also zurueck in die fremde...
die ersten sterne werden sichtbar am himmel, und hinter einer wolke taucht ein schwarzes mondschaf auf und grinst bloede. das mondschaf ist zugegebenermassen erfunden. aber es hat einen namen, und es soll seinen platz in dieser geschichte haben...

der vogel...
ich werde gleich zuhause nachsehen, ob der vogel mit drauf ist.
ohne vogel ist das bild vollkommen wertlos. ohne vogel ist auch dieser ausbruchsversuch gescheitert.
wenn ich zurueck bin in meinem gefaengnis, werde ich es sofort nachpruefen.
aber der vogel ist mir ins bild geflogen. freiwillig. weil er es so wollte. er wollte mit drauf sein.
ich fuehle, dass es so sein koennte.

es wird dunkler, die sterne sind verschwunden, und ein fahler mond haengt an einem trostlosen himmel. ich hoere den langsamen, wie entrueckt wirkenden zweiten satz aus arvo paerts „tabula rasa“ als wortlosen kommentar zur still verglimmenden landschaft. die musik erlischt. ein fast undurchdringliches, konturloses schwarz bleibt zurueck. ein sanftes, sich in die unendlichkeit des raumes ausdehnendes nichts aus atmen und schweigen. aus stille. aus absoluter bewegungslosigkeit.
es ist unbeschreiblich schoen...

[...]

wozu diese fahrt? vielleicht war sie sinnvoll in ihrer sinnlosigkeit.
denn das bild, das ich gesucht hatte, gibt es ja schon laengst. in unzaehligen variationen.
ich hab' sie alle schon gemacht. es bedarf keiner weiterer wiederholungen mehr...

und der alte mann, er geht mir nicht mehr aus dem sinn
was wollte er mir zurufen?
wahrscheinlich war es nur einbildung...

tabula rasa...
ja, vielleicht. irgendwann...

es ist kalt.
die luft
riecht schon nach schnee...

[11.11.2005]