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Pfarrer im Dritten Reich
[Auszug aus den bisher unveröffentlichten Lebenserinnerungen "Unterwegs bei Sonnenschein und Sturm" meines Vaters Friedrich May]

Am 3. Advent, dem 17. Dezember 1933, wurde ich in der Bergkirche in Mümling-Grumbach ordiniert. Ich war damals 24 Jahre alt.
Und wenn ich daran erinnere, daß mein Amtsantritt in eine Zeit fiel, die für die Kirche und ganz besonders für ihre Pfarrer eine überaus turbulente Zeit war, dann wird man verstehen, daß ich meinem Amtsantritt mit mancherlei Ängsten und Befürchtungen entgegensah. Dazu kam noch, daß die Weihnachtszeit und der Jahreswechsel mit einer Vielzahl von Gottesdiensten auf mich wartete.


Mein Vater, Friedrich May
* 29.07.1909, † 08.08.1991

Kein Wunder, daß dies einen Pfarrassistenten, der ich damals war, ins Schwitzen bringen konnte. Das Beunruhigendste aber blieb die Tatsache, daß ein Pfarrer, der nicht die offizielle Parteilinie vertrat, in dieser Zeit der massiven Feindschaft der NSDAP ausgesetzt war. Der Haß gegen die Kirche und ihre Botschaft hatte ein Ausmaß angenommen, wie es in der Geschichte der Kirche schon lange nicht mehr der Fall war.

In dieser Lage war ich als blutjunger und unerfahrener Pfarrer auf Begleitung und Beistand im Dienst angewiesen. Zumal ich von Natur noch sehr schüchtern und zurückhaltend war. Gott sei Dank, ist mir diese Unterstützung in reichem Maße zuteil geworden. Das freut mich heute noch, wenn ich daran zurückdenke. Zuallererst denke ich da an Pfarrer Koch in Höchst. Er war gewissermaßen mein Vorgesetzter. Aber viel wichtiger: Er war mein bester Freund. Für ihn war ich wie ein Sohn oder besser wie ein Enkel. Er hat mir auch gleich in den ersten Tagen das brüderliche 'Du' angeboten. So hat er schnell alle Schranken niedergelegt, die mich etwa hätten hindern können, ein herzliches Vertrauen zu ihm zu fassen. Hinzu kam, daß ich im Kreise meiner Pfarrbrüder überaus freundlich aufgenommen wurde. Ich erinnere mich noch gut an einen Pfarrkranz im Höchster Pfarrhaus. Ich war danach mit meinem Fahrrad auf dem Heimweg zusammen mit dem damaligen Bad Königer Pfarrer. Bevor wir uns in Mümling-Grumbach oben an der Hauptstraße verabschiedeten, standen wir noch einen Augenblick beisammen. Da sagte er zu mir: "Lieber Bruder May, wenn sie irgend Rat und Hilfe brauchen, stehe ich ihnen jederzeit gerne zur Verfügung".

Sehr viel Beistand fand ich auch bei meinen Kirchenvorstehern. Bei so viel brüderlicher Zuwendung faßte ich Mut. Da mußten ja wohl auch Schwierigkeiten, die auf mich zukommen würden, zu bewältigen sein.

Eine besondere Aufgabe in Mümling Grumbach bestand darin, das Jugendheim, das sogenannte 'Lutherheim', fertig zu bauen. Mein Vorgänger hatte es unvollendet, das heißt im Rohbau, zurücklassen müssen. Die Zimmerleute, Vater und Sohn Weichel, hatten in vorbildlicher und selbstloser Weise daran gearbeitet. Die Beschaffung der noch erforderlichen Mittel machte große Schwierigkeiten. Aus der Kirchenkasse war dafür nicht viel zu holen. Ich war vor allem auf freiwillige Spenden angewiesen. Das Sammeln von Geldern für kirchliche Zwecke war verboten. Ich konnte also nur in den Gottesdiensten und im kirchlichen Gemeindeblatt bitten, mir Spenden ins Haus zu bringen. Zu meiner großen Freude war aber die Gebefreudigkeit sehr groß, so daß das Lutherheim bald bezugsfertig war. Bei der Einweihung war es dann auch eine große Gemeinde, die sich zu einem Festzug durchs Dorf sammelte und dann zu dem Neubau hinzog. Wir waren alle sehr stolz, daß es uns trotz aller Hindernisse gelungen war, dieses Vorhaben meines Vorgängers zu einem glücklichen Ende zu führen. Beinahe hätte es der Ortsgruppenleiter der NSDAP geschafft, unser Lutherheim für die Hitlerjugend zu enteignen. Das konnten wir jedoch verhindern, indem wir den ‚Verein der Jugendheimfreunde' (den Bauherrn und Besitzer des Hauses) auflösten und das Heim in den Besitz der Kirchengemeinde überführten durch gerichtlichen Beschluß!

Für meine Arbeit in der Gemeinde war mir nun dieses Haus eine große Hilfe. Kirchliche Jugendarbeit war ja verboten. Aber hier fanden nun die Frauenhilfsveranstaltungen statt, Gottesdienste für die Alten, Bibelstunden und Konfirmandenunterricht. In diesem Zusammenhang muß ich die Mitarbeit der Frauen in der Gemeindearbeit und vor allem auch bei der Fertigstellung des Gemeindehauses ganz besonders hervorheben. Eine Frau in Mümling-Grumbach ist mir da sehr lebhaft in Erinnerung geblieben: die 'Rechemodder', wie sie im Dorf genannt wurde. Sie war im Frauenkreis in vorbildlicher Weise tätig. Mit ihr noch viele andere. So viel treue Mitarbeit wird ein Pfarrer auch nach 50 Jahren so leicht nicht vergessen. Die Fertigstellung des Lutherheims war für mich zugleich eine große Ermutigung.

Wenn ich über meine Amtszeit berichte, muß in diesem Zusammenhang auch ein Wort über die Pfarrfrau gesagt werden.


Meine Mutter, Sophie May geb. Fuhr
* 15.05.1912, † 18.02.2003

Wir beide haben am 4.11.1934 geheiratet. Ich war zu dieser Zeit ein Jahr im Amt. In meiner Frau fand ich für meine Arbeit eine erhebliche Verstärkung. An und für sich ist das ja nichts Ungewöhnliches. Schließlich heißt es ja in der Bibel: "Ich will ihm eine Gehilfin machen...". Das gilt in jedem Fall. Bei einer Pfarrfrau hat das Wort sicherlich noch eine besondere Bedeutung. Wenn eine Pfarrfrau auch bei der Predigt nicht viel helfen kann, so ist sie doch als Zuhörerin von größter Bedeutung. Sie wird immer mit kritischen Augen ihren Mann begleiten. Das wichtigste aber ist, daß sie bereit ist, die Sorgen und Beschwernisse ihres Mannes mitzutragen. Und gerade in jener Zeit war das keine leichte Aufgabe. Wenn sie ihren Mann ermutigt, wenn sie ihm zur Seite steht, dann ist es leichter, Anfechtungen durchzustehen und Anfeindungen nicht auszuweichen, dann hilft ihm das und ermutigt ihn, da wo es nötig ist, klare Stellung zu beziehen in den Fragen des christlichen Glaubens auch bei allen zu erwartenden möglichen Folgen.

Die drei Jahre in Mümling-Grumbach waren für meine spätere Amtszeit von großer Bedeutung. In diesen Jahren bin ich reifer, erfahrener und widerstandsfähiger geworden für die Zukunft, die ja noch viel härter und mühseliger werden sollte. Da war Mümling-Grumbach nur ein sanftes Vorspiel. Hier kündigte sich allerdings eine Steigerung der Auseinandersetzungen schon an. Ich denke an den Sonntag nach unserer Hochzeit. Mein Freund, der uns getraut hatte, hielt den Gottesdienst. Zum ersten Mal war eine Kanzelabkündigung zu verlesen, was ich selbst getan habe. Damit wurden die schweren Auseinandersetzungen innerhalb der Kirche öffentlich vor die Gemeinde gebracht. Es ging um die sogenannten Deutschen Christen (DC). Das waren jene Leute, die meinten, die Kirche müsse ihre Verkündigung dem nationalsozialistischen Gedankengut anpassen. So bestritten sie z. Bsp. die Geltung des Alten Testaments für den christlichen Glauben. Oft sah es fast so aus als würden die besonders radikalen Anhänger der Deutschen Christen am liebsten die ganze Bibel durch Hitlers "Mein Kampf" ersetzen. Jesus Christus als einer, der von den Juden kam, war für sie als Heiland und Erlöser nicht mehr tragbar. Sie versuchten ihn durch allerhand Kniffe zu einem Arier zu machen. In unserem Dekanat Erbach gab es allerdings nur zwei Pfarrer dieser Richtung.

Gegen die Deutschen Christen richtete sich jene Kanzelabkündigung am Sonntag nach meiner Hochzeit. Hinter dieser Kanzellabkündigung standen die Pfarrer von der Bekennenden Kirche. Das war die große Mehrzahl in unserem Dekanat. Daneben gab es noch eine Gruppe, die etwas scherzhaft "BDM" (Bund der Mitte) genannt wurden. An der Spitze der Bekennenden Kirche stand der Pfarrer Dr. Martin Niemöller, der dann im Konzentrationslager landete, als persönlicher Gefangener des Führers, wie es hieß. Er saß zunächst im Gefängnis, wurde entlassen und sofort ins Konzentrationslager Dachau eingewiesen! Dort blieb er bis zum Ende des Krieges. Er war dann später Kirchenpräsident unserer Hessischen Landeskirche. Wer sich zur Bekennenden Kirche rechnete, war von vornherein den Organen der Partei verhaßt. Die Herrschaften haben mir gewiß manchen Schrecken eingejagt. Aber ich habe das alles angesehen als die große Herausforderung, bei der es darauf ankam, Farbe zu bekennen und sich zu bewähren als einer, der in seinem Ordinationsgelübde einen bestimmten Auftrag übernommen hat. Ich habe in dieser Zeit erfahren, was Gott seinerzeit den Apostel Paulus wissen ließ: "Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig".

Im Jahre 1936 zogen wir um nach Vielbrunn. Es hatte sich sonst niemand beworben. Anderen war es wohl zu abgelegen. Wir haben diesen Umzug nie bereut. Wir fanden hier eine Gemeinde, die wohl wie kaum eine andere treu zu ihrem Pfarrer stand. Als meine Frau zum ersten Mal das Pfarrhaus sah, meinte sie: "Es sieht aus wie ein Gefängnis".


Pfarrhaus Vielbrunn. Die Aufnahme wurde von meinem Bruder Gerhard gemacht.
In diesem Haus verbrachte ich meine Kindheit [das Bild stammt aus dieser Zeit].

Im ganzen unteren Stock waren die Fenster mit starken Eisengittern versehen. Später waren wir dafür froh. Man fühlte sich dahinter inmitten der unruhigen Zeiten besonders nachts ein wenig sicherer vor einem plötzlichen Überfall.

Der Kampf gegen die Kirche hatte sich verschärft. Außer Martin Niemöller und anderen war nun auch Pfarrer Bonhoeffer im Konzentrationslager und dort auf eine bestialische Art gemartert und ermordet worden. Als in der sogenannten Reichskristallnacht den Juden so schwer mitgespielt worden war, hieß es bei den Nazis: "Erst Knoblauch, dann Weihrauch". Das zielte auf die Kirche. Es kam die Zeit, in der die Polizei in den Gottesdiensten saß und die Predigt überwachte. Auch die Geheime Staatspolizei machte sich häufiger bemerkbar, auch bei mir.

In den folgenden Ausführungen lasse ich nun einfach meine eigenen Eintragungen in die Vielbrunner Kirchenchronik reden:

Zum Erntedankfest 1936 kam ich als Pfarrverwalter nach Vielbrunn. Ich war zu dieser Zeit 27 Jahre alt. Schon sehr bald zeigte sich, daß ich auch bei den Nazileuten in Vielbrunn nicht beliebt war. In den Gottesdiensten erschien immer wieder ein Wachtmeister aus Bad König oder der hiesige Ortsgruppenleiter. Die Gottesdienstbesucher waren über solche Überwachung immer sehr empört. Durch allerlei Kraftausdrücke machten sie ihrem Ärger Luft. Das steht fest, daß durch solche Überwachung der Gottesdienste die Erregung in der Gemeinde immer größer wird. Die polizeiliche Überwachung ist ja auch wirklich unnötig, denn von unserer Kanzel wird nichts verkündigt, was Volk und Staat gefährden könnte. Im Gegenteil. Allerdings lassen wir uns nicht hindern, gegen Angriffe auf die Kirche und ihre Verkündigung Stellung zu nehmen, mögen diese Angriffe kommen, woher sie wollen.

Am 28.02.1937 erschien der Wachtmeister vor dem Gottesdienst und warnte mich, in der Predigt etwas zu sagen über die bevorstehenden Kirchenwahlen. Der Erlaß des Führers war noch nicht lange veröffentlicht, so daß ich dem Wachtmeister nur erklären konnte, ich wüßte ja noch nichts Genaueres. Sobald ich aber Näheres wüßte, dann müßte ich natürlich vor der Gemeinde etwas sagen. Darauf erklärte er mir, in einer Versammlung dürfte ich das tun, aber nicht in der Predigt. Später war der Wachtmeister bei mir, um Schriften und Flugblätter zu beschlagnahmen.

Am Donnerstag, den 01.04.1937 fuhr ich mit einem Omnibus voller Leute aus meinem Kirchspiel nach Darmstadt, um dort an einer kirchlichen Veranstaltung teilzunehmen, auf der namhafte Prediger zu Worte kommen sollten. Fast alle Kirchenvorsteher waren mitgefahren. Die GeStaPo hatte allen auswärtigen Rednern (außer zwei Schweizern) Redeverbot erteilt. Die Veranstalter der kirchlichen Woche sowie die auswärtigen Redner und alle anwesenden Pfarrer waren sich einig, daß wir hier Gott mehr gehorchen müßten als den Menschen. Sie haben also das Evangelium verkündet, ohne sich an das Verbot zu halten. Daraufhin wurde am Donnerstagabend Pfarrer Busch aus Essen verhaftet und ins Gefängnis gebracht. Schon vorher war die Pauluskirche von einem starken polizeilichen Aufgebot bewacht worden. An jenem Abend durfte niemand mehr in die Kirche. So kam es, daß die meisten unserer Leute draußen standen. Dort hörten sie Pfarrer Busch über einen Lautsprecher. Eine ungeheure Erregung bemächtigte sich aller, als bekannt wurde, Pfarrer Busch sei verhaftet worden. Dieses Erlebnis hat alle Gemeindeglieder aufgerüttelt. Später hörten wir, daß weitere fünf Pfarrer verhaftet worden seien. Sie wurden bald wieder alle freigelassen.

Am Sonntag, dem 4.4. abends 8 Uhr hielt ich daheim in unserer Vielbrunner Kirche einen Bekenntnisgottesdienst. Es kam darauf an, den Leuten zu sagen, worauf es bei der kommenden Kirchenwahl ankommt. Der Gottesdienst war von 156 Männern (!) und 102 Frauen besucht.

Am Sonntag, dem 25. April 1937 (Kantate) wird der Gottesdienst wieder von einem Polizeibeamten aus Bad König überwacht. Desgleichen am 2. Mai und am 6. Mai (Himmelfahrt). Danach will er bei mir eine Reihe von Flugblättern beschlagnahmen, die mir aber nicht zugegangen waren. Unter anderem wird verboten, die Pfarrbrüder ins sonntägliche Fürbittgebet miteinzuschließen, die von der GeStaPo Redeverbot usw. bekommen haben.

Am Samstag, dem 19.4.37, hielt einer der beiden Deusche-Christen-Pfarrer - er hatte die Funktion eines Gemeindeführers bei den sogenannten Thüringer Deutschen Christen - eine Versammlung ab. Dazu waren etwa 40 Personen erschienen. Davon waren etwa 10 aus Erbach mitgekommen. Etwa 5 Katholiken aus unserer Gemeinde waren aus Neugierde dabei. Die anderen waren z. T. auch Neugierige, so daß nur wenige Deutsche Christen übrig blieben. Etwa acht haben ihren Beitritt erklärt: darunter unser Bürgermeister, der Beigeordnete und die Leiterin der NS-Frauenschaft.

Am 7.5. 37 hielt hier Herr Pfr. Röhricht den Gottesdienst. Er kam aus Darmstadt und sprach über die Notwendigkeit der Arbeit der Inneren Mission in der Gegenwart. Nachmittags sprach er vor den Mitgliedern der ev. Frauenhilfe, die etwa 140 Mitglieder zählt. Er teilte mit, daß die ev. Frauenhilfe aus dem Reichsfrauenwerk (Zusammenfassung aller Frauenverbände Deutschlands) ausgeschlossen worden sei. In Sachsen sei es sogar verboten, daß eine Frau zugleich einem ev. Frauenverein und der NS-Frauenschaft angehöre. Es könnte sein, daß auch hier die Frauen vor diese Entscheidung gestellt werden könnten. Einige Tage später erklärte unsere Frauenschaftsführerin, daß fünf namentlich genannte Frauen aus der Frauenhilfe ausgetreten seien, und zwar auf Grund der Rede, die Herr Pfr. Röhricht gehalten habe. Auf meine Bitte, einen näheren Grund anzugeben, bekam ich eine ausweichende Antwort. Nun ist meine Frau noch die einzige, die in beiden Frauenvereinigungen Mitglied ist. Sie ist dann bald danach aus der NS-Frauenschaft ausgetreten. Sie war seinerzeit als BDM-Mädchen automatisch in die NS-Frauenschaft übernommen worden.

Am Sonntag, dem 23.5.37 hielt der nämliche DC-Pfarrer aus unserem Dekanat hier seine zweite Deutsch-Christl. Versammlung im Wolf'schen Saale ab. Durch die Ortsschelle war die ganze Gemeinde eingeladen worden. Erschienen waren dazu etwa 12-15 Gemeindeglieder. Darunter der Bürgermeister, der Beigeordnete mit ihren Frauen und die NS-Frauenschaftsleiterin und deren Mann. Etwa 60-70 Gemeindeglieder, jung und alt, standen unten auf der Straße. Der Pfarrer hatte sich wieder einige Leute aus seiner Gemeinde mitgebracht. Diese forderten die Leute auf der Straße auf, in die Versammlung zu kommen. Darauf gab man zur Antwort, wenn der Pfarrer etwas will, soll er herabkommen zu uns, dort oben haben wir nichts verloren. Das hat er dann auch wirklich getan. Mit dem Erfolg, daß er sich lächerlich machte. Als er den Leuten sagte: "Sie wollen doch auch nichts anderes als wir", gab man ihm darauf zur Antwort, dann solle er doch zu Hause bleiben. Nachdem er noch eine Weile mit den Leuten auf der Straße disputiert hatte, begab er sich wieder zurück in seine Versammlung. Als von dort die neuen Lieder der Deutschen Christen erklangen, wurde auf der Straße von der Menge das Lutherlied angestimmt. Ich selbst war an diesem Abend auswärts. Die Gemeinde lehnte die Neuerungen der Deutschen Christen entschieden ab.

Nach dem Gottesdienst am 15. August 1937 erkundigte sich der Wachtmeister bei den Kirchenvorstehern nach der Verwendung der Kollekten. Er selbst war an diesem Tage nicht in der Kirche. Am Mittwoch, dem 1. September 1937 wurde ich auf die Bürgermeisterei gerufen. Dort ist der Wachtmeister und will mich verhören. Im Auftrag der GeStaPo. Ich wurde beschuldigt, an einem Sonntag eine Kollekte erhoben zu haben für gemaßregelte Pfarrer. In Wirklichkeit hatte ich an diesem Sonntag zwei Pfarrer bekanntgegeben, die verhaftet worden waren. Anschließend wurde auf die Kollekte hingewiesen und gesagt, daß ein Teil dieser Kollekte für die Anschaffung von Gesangbüchern verwendet werden soll, damit auch die Kurgäste mitsingen können. Nach diesem Verhör war der Wachtmeister viermal hintereinander zur Überwachung in den Gottesdiensten.

Der Konfirmandenunterricht ist von jeher in einem Schulsaal erteilt worden. Seit dem 13. November 1936 ist dies verboten. Die Schulleiterin und der Bürgermeister haben beschlossen, keinen Schlüssel mehr für diesen Zweck herauszugeben. Am Donnerstag, dem 11. November 1936 hatte mir die Schulleiterin gesagt, es wäre dem Bürgermeister lieber, ich würde meinen Konfirmandenunterricht im Gemeindehaus halten, die Konfirmanden würden im Schulkeller ein großes Durcheinander machen und auch wegen dem "Hinundher". Letzteres konnte ich zunächst nicht recht verstehen. Ich erklärte ihr, ich würde selbst den größten Wert darauf legen, daß es bei den Konfirmanden in Zucht und Ordnung zugeht. Ich wollte sie deshalb in Zukunft im Pfarrhof zusammenkommen lassen und dann mit ihnen in die Schule gehen, damit sie dort vorher nichts anstellen können. Dann fügte ich noch hinzu, wenn wir aber zur Abhaltung des Konfirmandenunterrichts in der Schule nur geduldet seien, wäre ich ohne weiteres bereit, meinen Konfirmandenunterricht in das Ev. Gemeindehaus zu verlegen. Wenn wir aber ein Recht auf Benutzung hätten, dann wollten wir von unserem Recht auch Gebrauch machen. Ich hatte damit gerechnet, daß wir noch einmal eine Antwort bekämen. Aber das geschah nicht. Am Samstag, dem 13. November 1936, sammelten sich die Konfirmanden im Pfarrhof. Den Unterricht konnten wir aber in der Schule nicht halten. Sie war verschlossen. Ich ging daraufhin sofort zum Bürgermeister. Auf meine Frage, warum wir keinen Schlüssel bekommen, erklärte er mir, die Kirche sei doch gegen den Staat, deshalb könnten sie es nicht verantworten, eine staatliche Einrichtung der Kirche zur Verfügung zu stellen. Im Laufe des Gespräches stellte es sich heraus, daß unser Bürgermeister gar nicht mehr auf dem Boden des Christentums steht. Das Christentum ist für ihn nicht so wichtig; das Alte Testament lehnt er vollkommen ab. Den Gottesdienst besucht er schon lange nicht mehr (übrigens wurde mir erzählt, daß auch mein Vorgänger im Amt von der Kanzel herunter erklärt haben soll: Die Bibel wird nur noch so dick sein; dabei soll er mit Daumen und Zeigefinger nur etwa die Stärke des Neuen Testaments angedeutet haben. Er soll auch unter dem Talar in SA-Uniform im Gottesdienst aufgetreten sein).

Wir Pfarrer von der Bekennenden Kirche in unserem Dekanat haben uns von den Pfarrkonventen, die unser Dekan einberuft, abgesondert und haben unseren eigenen Dekan, Pfarrer Römheld (Sandbach), für uns gewählt. Verwaltungsmäßig halten wir uns zur Landeskirche, führen die Kollekten nach Plan ab, soweit sie nicht in der eigenen Gemeinde verwendet werden dürfen. Unsere Kirchenleitung in Darmstadt ist ganz nationalsozialistisch ausgerichtet. Sie laufen zum Teil im Amt in brauner Uniform herum und gebärden sich als die Handlanger der Nazis.

Seit dem Weggang von Lehrer Lerch haben wir an der Schule einen Junglehrer, der ganz und gar "deutschgläubig" eingestellt ist. Er versucht auch die Kinder in der Schule in diesem Sinne zu beeinflussen. Aber ohne Erfolg. Als ich davon erfuhr, daß er die Kinder dem Christentum abspenstig und ihnen auch Jesus Christus verächtlich machen will, fühlte ich mich verpflichtet, ihn darüber zur Rede zu stellen. Er gab zu, daß er das Christentum im Zentralsten ablehne. Darauf mußte ich ihm sagen, daß es charakterlos sei, christlichen Religionsunterricht zu übernehmen, um diesen im antichristlichen Sinn zu halten. Wahrscheinlich war dieses Gespräch der Grund für meinen Hinauswurf aus dem Religionsunterricht der Schule.

Wir mußten nun den Bühnenraum in unserem Kindergarten einrichten für den Konfirmandenunterricht. Es fehlten eine Tafel und Tische. Im Gottesdienst habe ich die Gemeinde aufgefordert, durch eine Kollekte die Mittel für die Anschaffungen zur Verfügung zu stellen. Die Opferbereitschaft war überaus groß. Es kamen insgesamt 108 Mark zusammen. Die Empörung über die Maßnahme des Bürgermeisters und der Schulleiterin war sehr groß.

Am 23. Dezember 1937 erschien bei mir der Wachtmeister aus Bad König, um mich zu verhören, weil ich eine Kollekte für die Einrichtung unseres Gemeindehauses erhoben hatte. Das Kreisamt hatte an die Gendarmeriestation in Bad König geschrieben: "Erbach, den 16.12.37. Wie wir erfahren, hat Pfarrer May in Vielbrunn, nachdem ihm nahegelegt wurde, seinen Konfirmandenunterricht ins Gemeindehaus zu verlegen, eine Kollekte "zur Herrichtung dieses Raumes" erhoben. Ein Bedürfnis für diese Kollekte soll nicht vorgelegen haben, auch dürfte diese nicht genehmigt gewesen sein. Bei der Kollekte sollen 90 Mark zusammengekommen sein. Wir ersuchen das Erforderliche zu veranlassen und gegebenenfalls Anzeige zu erstatten. gez. Scher".

Ich habe in meinem Protokoll folgendes geschrieben: "Am 13. November 1937 wurde mir vom hiesigen Bürgermeister verboten, den Konfirmandenunterricht in der Schule zu halten, weil, wie er sagte, die Kirche gegen den Staat sei. Daraufhin waren wir gezwungen, den Konfirmandenunterricht in unserem Gemeindehaus zu halten. Für diesen Zweck mußte das Gemeindezimmer erst hergerichtet werden. Es fehlten uns die notwendigen Tische und Bänke. Außerdem mußte eine Tafel angeschafft werden. Die erforderlichen Mittel sind durch eine Kollekte beschafft worden. Dazu habe ich die Gemeinde im Gottesdienst aufgefordert. Eine solche Kollekte zu erheben fühle ich mich berechtigt, da es im Gesetz- und Verordnungsblatt unserer Ev. Landeskirche Nassau und Hessen vom 11. November 1937 ausdrücklich heißt: "§ 15 Ziffer 4 des Sammlungsgesetzes stellt die sogenannte Kirchenkollekte von der Genehmigungspflicht frei". Die eingegangenen Beträge für die Herrichtung unseres Gemeindezimmers werden lediglich für diesen Zweck verwandt. Die aufgebrachten Mittel werden jedoch noch nicht ausreichen, alles Erforderliche im Ev. Gemeindehaus (Gemeindezimmer) für die Zwecke des ev. Konfirmandenunterrichts einzurichten."

Diesen Darlegungen hatte der Wachtmeister noch hinzugefügt, daß er sich von der Notwendigkeit der Anschaffungen im Gemeindehaus überzeugen konnte, und da sich der Pfarrer auf das Gesetz- und Verordnungsblatt seiner Landeskirche berufen könne, liege ein Anlaß zur Anzeige nicht vor. Trotzdem erhielt der Wachtmeister mein Protokoll vom Kreisamt zurück mit dem Auftrag, in dreifacher Ausfertigung Anzeige zu erstatten. Eine sollte an das Kreisamt Erbach, eine zweite an die GeStaPo, die dritte nach Berlin an das Kirchenministerium gerichtet werden.

Am Montag, dem 3. Januar 1938, mußte ich also wegen dieser Angelegenheit noch einmal Protokoll machen. Ich fügte noch hinzu, daß ich hier am Ende eines jeden Gottesdienstes sowieso eine Kollekte erheben werde. Außerdem habe ich noch bemerkt, daß an den beiden Sonntagen, an denen für das Gemeindezimmer gesammelt wurde, keine vom Landeskirchenamt in Darmstadt angeordnete Kollekte zu erheben war. Diese Kollekten mußten nämlich nach Darmstadt abgeführt werden. Parturiunt montes, nascetur ridiculus mus (es kreisen die Berge, und geboren wird ein lächerliches Mäuschen).

Am 1. Februar 1938 fand sich an 3 verschiedenen Stellen unseres Dorfes folgender Anschlag: "Der Bürgermeister hat Anlaß, folgendes bekannt zu geben: Pfarrverwalter May hat in einer Sache, die ihn rein persönlich angeht, versucht, einer ihm von mir gemachten Eröffnung einen ganz anderen Sinn zu geben, indem er erklärte, ich hätte gesagt, die Kirche sei gegen den Staat. Ich erkläre hiermit, daß ich in einer Auseinandersetzung mit ihm gesagt habe, sie haben seit ihrem Hiersein nur Haß und Zwietracht in unser Dorf getragen. Menschen, die sich bisher nahe standen, stehen sich jetzt feindlich gegenüber. Ihre Kirche, also seine des Pfarrers May - keineswegs die ev. Kirche allgemein - die die Dorfgemeinschaft zerstört und dazu auf jüdischem Boden steht, können wir nicht unterstützen. Diesen Standpunkt werde ich auch weiterhin in meinen Maßnahmen rückhaltlos vertreten. Feinde der nationalsozialistischen Weltanschauung werden rückhaltlos bekämpft, einerlei, wer sie sind. gez. Siefert".

Dieses öffentliche Wort habe ich mir sofort am Abend geholt, abgeschrieben und wieder ausgehängt. Noch am gleichen Abend habe ich dann in der Frauenhilfe (vor 60 Frauen) dazu Stellung genommen. Dasselbe ist auch nach der Bibelstunde in Kimbach geschehen. Damit war der Fall für mich erledigt. Die Gemeinde in ihrer überwiegenden Mehrheit mißbilligte dieses Vorgehen des Bürgermeisters.

Seinem öffentlichen Anschlag gegenüber habe ich etwa folgendes erklärt: "Wenn es sich wirklich um eine persönliche Sache handelt, wozu redet der Bürgermeister über das schwarze Brett? Es handelt sich aber gar nicht um eine persönliche Sache. Wenn mir der Schlüssel für den Konfirmandenunterricht versagt wird, so geht das jeden Evangelischen in der Gemeinde an. Der Bürgermeister hat seinerzeit auf meine Frage, warum wir keinen Schlüssel für die Schule bekommen, geantwortet: die Kirche ist doch gegen den Staat, das kann er nicht bestreiten. Er selbst versucht jetzt, dieser Aussage einen anderen Sinn zu geben und abzuschwächen. Ich soll seit meinem Hiersein Haß und Zwietracht ins Dorf getragen haben. Ich frage, wer hat seinerzeit den Deutsche-Christen-Pfarrer nach Vielbrunn gerufen? Ich doch gewiß nicht. Von da an sind allerdings die Gegensätze sehr verschärft worden. Wenn der Bürgermeister wirklich Ruhe und Frieden im Dorf haben wollte, dann hätte er diesem Pfarrer aus Erbach sagen müssen, er möge nicht mehr nach Vielbrunn kommen. Das hat er aber nicht getan. Er kam sogar noch ein zweites Mal und der Herr Bürgermeister war selbst in den Versammlungen. Wenn er zu mir gesagt hätte: Meine Kirche sei gegen den Staat, so hätte ich sagen müssen, daß ich keine Kirche gegründet habe. Das habe ich aber nicht gesagt, weil mir dazu kein Anlaß gegeben wurde. Meine Kirche soll auf jüdischem Boden stehen. Dazu ist weiter nichts zu sagen, als daß es eine törichte Redensart ist. Wenn er mich als einen Feind der nationalsozialistischen Weltanschauung hinstellt, so kann ich darauf hinweisen, daß ich lange vor meiner pfarramtlichen Tätigkeit mit der nationalsozialistischen Bewegung sympathisiert habe. Meine Einstellung zur NSDAP hat sich allerdings bereits im Jahre 1934 grundlegend geändert, als deutlich wurde, wie diese Bewegung tatsächlich zur Kirche steht.

An einem Mittwoch war ich auf das Kreisamt in Erbach zur Rücksprache vorgeladen. Unterzeichnet war die Vorladung von dem Regierungsrat Dr. Helmreich. Er eröffnete mir im Auftrag der Landesregierung, Abteilung 7 Schulverwaltung, folgendes: "In wessen Auftrag halten Sie Religionsunterricht? Wer hat Ihnen die Genehmigung dazu gegeben?" Ein dummes Gesicht war meine erste Antwort. Dann sagte ich ihm, daß ich fast drei Jahre hindurch auf meiner ersten Pfarrstelle in Mümling-Grumbach unterrichtet hätte ohne jede Beanstandung. Als ich nach Vielbrunn gekommen bin, habe ich in den Schulen Kimbach und Vielbrunn ebenfalls ev. Religionsunterricht erteilt. Schließlich fiel mir ein, daß der damalige Lehrer und Schulleiter Koch in Vielbrunn die notwendigen Schritte unternommen hatte. Mir wurde erklärt, daß ich die notwendige Genehmigung beim Ministerium einholen müßte. Bis dahin gilt für mich ein Verbot, Religionsunterricht an der Schule zu halten. Auf der Heimfahrt bin ich dann zu Herrn Koch in Zell gefahren, der mir bestätigte, daß er beim Kreisschulamt in Erbach angefragt habe, ob der neue Pfarrer in Vielbrunn ev. Religionsunterricht erteilen darf. Von dort bekam er bejahenden Bescheid. Ich habe auch mit Herrn Lehrer Müller in Kimbach Rücksprache genommen. Er hat damals mit Schulrat Göbel diese Angelegenheit besprochen. Ihm wurde erklärt, es genüge, wenn diese Angelegenheit in Vielbrunn geregelt sei, das gelte auch in Kimbach. Mithin habe ich den Unterricht mit Genehmigung des Schulrates übernommen. Ich habe sofort diesen Sachverhalt telefonisch dem Regierungsrat Dr. Helmreich in Erbach am Kreisamt weitergemeldet. Darauf hat der sich mit dem Schulrat ins Benehmen gesetzt. Dieser hat den Sachverhalt bestätigt. Am Abend teilte mir Dr. Helmreich dies mit. Er fügte aber hinzu, daß später ein Gesetz herausgekommen sei, wonach ich auch meinerseits um besondere Genehmigung hätte bitten müssen. Ich müßte also noch das entsprechende Gesuch einreichen. Bis dahin gelte das Verbot, Religionsunterricht an der Schule zu halten. Am 26. Februar 1938 erhielt ich dann von der Landesregierung in Darmstadt, Abteilung Schulverwaltung, auf mein Gesuch hin den Bescheid, daß ich nicht befugt sei, lehrplanmäßigen Religionsunterricht zu halten. Eine nähere Begründung wurde nicht gegeben.

"Heldengedenktag" 1938 am Sonntag Reminiscere. In früheren Jahren kam der Kriegerverein immer geschlossen in den Gottesdienst an diesem Sonntag. 1937 ist dies noch so gewesen. Damals kam auch der Bürgermeister mit. Seitdem ist er dann nicht mehr in die Gottesdienste gekommen. 1938 hat er dann als Vorsitzender des Kriegervereins allen Mitgliedern verboten, mit der Vereinsmütze und der entsprechenden Armbinde am Gottesdienst teilzunehmen. Und vor allem durfte keine Fahne in die Kirche. Es wurde auch nicht erlaubt, im Frack und Zylinder geschlossen in die Kirche zu gehen. Der hiesige Ortsgruppenleiter hat dieses Verbot auch auf Kimbach ausgedehnt, weil dieses Dorf zur hiesigen Ortsgruppe gehörte. Nur wenige billigten dieses Verhalten der Kirche gegenüber. Die Mitglieder wünschten mit wenigen Ausnahmen geschlossenen Kirchgang wie in früheren Jahren. Das Verbot ist nur als eine rein persönliche Aktion des Bürgermeisters zu erklären, denn anderwärts haben die Kriegervereine geschlossen am Gottesdienst teilgenommen. Der weltliche Gesangverein "Germania" hatte die Absicht, am "Heldengedenktag" ein Lied in der Kirche zu singen. Auch das wurde untersagt. Als der Vorsitzende in der letzten Übungsstunde andeutete, daß in der Kirche nicht gesungen würde, stimmten die Mitglieder ab. Dabei ergab sich, daß alle einstimmig für das Singen in der Kirche waren. Als man auf diesem Wege nicht zum Ziel kam, drohte man dem Dirigenten (Lehrer Müller) mit eventuellen Schwierigkeiten, die ihm erwachsen würden, wenn er den Gesangverein in der Kirche dirigiere. Auf diesem Wege hat man erreicht, was man erreichen wollte. Der Vorsitzende des Gesangvereins, hat wohl auf höheren Befehl gehandelt, wenn auch er sich an das Verbot hielt. Der Gottesdienstbesuch hat jedoch trotz all dieser Schikanen in keiner Weise gelitten. Die Mitglieder des Kriegervereins sind erschienen und saßen in der Kirche unten in den Kirchenstühlen alle zusammen wie in früheren Jahren. Es waren an diesem Sonntag 204 (!) Männer und 162 Frauen in der Kirche. Der Kriegerverein von Kimbach hatte mich gebeten, dort bei der Feier am Kriegerdenkmal zu sprechen. Aber auch das wurde untersagt, wie ja überhaupt allen Pfarrern verboten wurde, an einem Kriegerdenkmal zu sprechen.

Von jeher war bei uns mittwochs und samstags Konfirmandenunterricht. Seit Mitte Mai 1938 ist dies nun anders. Die hiesige Schulleiterin setzte kurzerhand für Mittwoch Handarbeit an. Die Kinder hatten zwar der Schulleiterin gesagt, daß sie zu dieser Zeit Konfirmandenunterricht hätten; doch sie erklärte, der Stundenplan sei vom Kreisschulamt so genehmigt, und daran könnte auch nichts mehr geändert werden. Die Konfirmanden fragten dann bei mir, was sie tun sollten. Ich sagte, daß ich bereit sei, meinen Konfirmandenunterricht zu verlegen, aber erst dann, wenn ich wüßte, wann ich meinen Konfirmandenunterricht halten könnte. Deshalb bleibe es vorläufig bei der alten Regelung. Die Konfirmanden waren dann am folgenden Mittwoch auch alle im Konfirmandenunterricht. Danach bin ich dann auch sofort zum Schulrat Gerbig nach Erbach gefahren, dem ich die ganze Sache vortrug. Er hat dann dafür gesorgt, daß ein anderer Nachmittag frei gemacht wurde. Seitdem ist donnerstags Konfirmandenunterricht. Der Samstag wurde beibehalten. Am Donnerstag nach jenem Mittwoch, an dem zum ersten Mal Handarbeit sein sollte, hat die Schulleiterin in der Schule dann furchtbar gewettert, weil die Kinder nicht zur Handarbeit, sondern in den Konfirmandenunterricht gegangen waren. Unter anderem ließ sie sich zu der Frage hinreißen, ob die Mädchen später ihren Männern die Hemden mit Bibelsprüchen flicken wollten. Nachdem sie sich tüchtig ausgetobt hatte, erfuhr sie dann durch den Schulrat am Telefon, daß die ganze Frage des Konfirmandenunterrichts inzwischen höheren Ortes ohne sie geregelt sei.

Ausgerechnet die Gottesdienstzeit mußte am 14. August 1938 dazu herhalten, die Felder nach Kartoffelkäfern abzusuchen. Aus jedem Haus mußte eine Person mitgehen. Vorher war schon um 7 Uhr Feuerwehrappell.

Die bis hierher berichteten Eintragungen in die Pfarrchronik hatte ich seinerzeit als ich zur Wehrmacht eingezogen wurde aus dem Buch entfernt, um sie nicht der GeStaPo in die Hände fallen zu lassen während meiner Abwesenheit. Nach meiner Heimkehr aus russischer Gefangenschaft habe ich die Blätter der Chronik wieder eingefügt.

Lehrer Müller hatte in der Nazizeit den Organistendienst in unserer Kirche übernommen. Ihm wurde eines Tages mit Versetzung gedroht, falls er diesen Dienst nicht aufgeben würde. Er hat daraufhin gekündigt. Ich habe dann im Gottesdienst außer meinem pfarramtlichen Dienst die Gemeinde auch noch auf der Orgel begleitet und wie sonst auch noch den Kirchenchor dirigiert. Schließlich fand sich ein Katholik, der eine Zeitlang den Organistendienst übernahm.

Im Jahre 1937 stellte der Kirchenvorstand bei der Kirchenleitung in Darmstadt den Antrag, mich vom Pfarrverwalter zum ständigen Pfarrer zu ernennen. Als Pfarrverwalter war ich ja nicht fest angestellt. Ich konnte jederzeit auf die Straße gesetzt werden. Andere Amtsbrüder meines Jahrgangs waren längst Pfarrer. Der Antrag des Kirchenvorstands wurde abgelehnt. Wir bekamen den Bescheid, daß ich nicht als Pfarrer fest angestellt werden könne, da der Staat sein Veto eingelegt habe. Das heißt, der Staat hatte von seinem Vetorecht bei der Anstellung eines Pfarrers Gebrauch gemacht. Dies stand ihm von Rechts wegen zu. Dieses Recht stand bis 1918 dem Großherzog von Hessen zu, der bis dahin der oberste Herr der Kirche war. Als 1918 nach der Revolution der Großherzog abgesetzt wurde, ging dieses Einspruchsrecht an den Staat über. Als die Nazis ans Ruder kamen, haben sie natürlich dieses Recht ausgeübt in Hessen. Eine äußerst willkommene Handhabe, nicht genehme Pfarrer zurückzuweisen. Die Ablehnung meiner Beförderung zum fest angestellten Pfarrer wurde mit der Bemerkung begründet, ich müßte erst meine nationalsozialistische Gesinnung beweisen. Ich bin dann im Stand eines Pfarrverwalters geblieben, bis ich 1948 aus russischer Gefangenschaft nach Hause kam. Ich war also von den 40 Jahren meiner Amtszeit 15 Jahre Pfarrverwalter. Das ist mehr als ein Drittel meiner gesamten Dienstzeit. Und zu verdanken habe ich dies alles meinen Freunden in Vielbrunn während der braunen Zeit.

Eines Tages erschien bei mir die Polizei und beschuldigte mich, ich hätte eine Kollekte für Martin Niemöller erhoben. Ich konnte an Hand meines Kollektenheftes nachweisen, daß dies nicht der Fall war. Irgendein Spitzel hatte da bei der Abkündigung der Kollekte offenbar nicht richtig hingehört. In der Angelegenheit wurde dann auch die Kirchenleitung eingeschaltet. Daraufhin kam dann die Polizei noch einmal. Sie sollte prüfen, ob ich nicht an diesem Sonntag eine Kollekte erhoben habe, die nach Darmstadt hätte abgeführt werden müssen. Aber auch damit hat nichts gegen mich ausgerichtet werden können.

Das war doch das Allertraurigste, daß sogar die eigene Kirchenleitung der GeStaPo noch einen Hinweis gab, wie mir etwa mitgespielt werden könnte. Es gab damals in Darmstadt einen Oberkirchenrat, der dort in SA-Uniform herumlief. So habe ich ihn selbst erlebt, als ich bei ihm vorsprach wegen meiner festen Anstellung. Neben diesem ganz besonders abschreckenden Beispiel muß aber hier auch ein Oberkirchenrat namens Müller erwähnt werden. Dieser Mann ist später höchst persönlich zu mir nach Vielbrunn gekommen und hat sich in einer Gemeindeversammlung an meine Seite gestellt zu einer Zeit, als mir die GeStaPo ganz schwer nachstellte. Er meinte zwar unter vier Augen, in dieser gefährlichen Zeit könnte man sich da und dort auch ein wenig zurückhalten und vorsichtiger sein. Fügte aber hinzu, ein klares und offenes Auftreten sei ihm dennoch lieber als Anpassung und Schweigen.

Die Gottesdienste waren in diesen schweren Zeiten immer gut besucht. Vor allem konnte ich über Mangel an Männern niemals klagen. Zuweilen waren mehr Männer im Gottesdienst als Frauen. Das zeigte sich sogar im Jahresdurchschnitt. Ob da in jedem Fall die christliche Überzeugung dahinter stand oder da und dort vielleicht in erster Linie der politische Widerstand den Ausschlag gab, will ich nicht ganz von der Hand weisen. Aber auch bei diesen Leuten herrschte doch offensichtlich die Überzeugung, daß die Kirche in allererster Linie berufen war, für die Freiheit der Persönlichkeit gegenüber dem Staat einzutreten, der zu dieser Zeit von jedem in allen Dingen absoluten Gehorsam verlangte. Sie spürten doch, daß die Kirche weithin eintrat für das Pauluswort: "Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen."

Die weithin geschlossene Haltung der Gemeinde für ihren bedrängten Pfarrer hat freilich den Parteifunktionären und der GeStaPo nicht gefallen. Nach Darmstadt an die GeStaPo-Zentrale muß ein reicher Strom von Berichten über mich geflossen sein. Das fette Aktenbündel wurde mir ja einige Zeit später vorgezeigt.

Die Sache mit unserem Kindergarten brachte schließlich das Faß vollends zum Überlaufen. Dem Kirchenvorstand wurde eines Tages mitgeteilt, daß der bis dahin evangelische Kindergarten der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) zu übergeben sei. Das war überall so. Der Kirchenvorstand hatte sich demzufolge eines Tages im Kindergarten zu versammeln. Dazu erschien der Herr Kreisamtsleiter der NSV, der unseren Kindergarten in die Obhut des Staates übernehmen sollte. Hierzu muß man wissen, daß der Kindergarten von einer Diakonisse des Darmstädter Mutterhauses geleitet wurde. Wir hatten außerdem in unserem Dorf eine zweite Diakonisse, für unsere Krankenpflegestation. Schwester Johanna Lauterbach für den Kindergarten und Schwester Dora Kimbel für die Kranken- und Altenpflege. Die Gemeinde hatte unter meinem Vorgänger unter allerschwersten Opfern diesen Kindergarten erstellt, indem die alte Pfarrscheuer für diesen Zweck umgebaut wurde. Für die arme Gemeinde Vielbrunn war das ein fast unmögliches Unterfangen. Aber diese Gemeinde hat das geschafft. In jedem Haushalt stand ein kleines Sammelkästchen, in das buchstäblich pfennigweise Geld für diesen Bau eingelegt wurde. Die Gemeindeblätter wissen noch darüber zu berichten! Der katholische Fürst zu Löwenstein, zugleich Patron unserer evangelischen Kirchengemeinde, hat alles erforderliche Bauholz gratis zur Verfügung gestellt. Es gab eine große Frauenhilfe in Vielbrunn, die ihre gesamten Beiträge der Unterhaltung dieses Kindergartens widmete. Wir zählten bis zu 150 Mitglieder! So hingen die Leute im Dorf an ihrem Kindergarten wie an einem persönlichen Eigentum. Kein Wunder bei den Opfern, die sie dafür gebracht hatten.

Und nun kamen diese NS-Herren daher und wollen den Kindergarten in ihre Hände nehmen. Das bedeutete, daß von nun an in diesem Kindergarten keine biblischen Geschichten mehr erzählt wurden. Die Diakonisse wurde abgesetzt und eine neue blutjunge Kindergärtnerin eingesetzt. Sie stammte aus Etzen-Gesäß und war seinerzeit von mir in Mümling-Grumbach konfirmiert worden.

Aber nun mußte der Kindergarten ja auch zunächst einmal übergeben werden. Als nun der Kirchenvorstand und der Kreisamtsleiter mit einigen weiteren prominenten Bonzen beieinander waren, meldete sich gleich zu Beginn mein Kirchenvorsteher Georg Hamann aus dem Kalten Loch, der sogenannte "Balze Schorsch", zu Wort: "Sagen sie uns, was haben wir denn falsch gemacht, daß sie uns heute unseren Kindergarten wegnehmen?". Er war Landwirt und Holzhändler und erlaubte sich solch eine verwegene Frage an einen allgewaltigen Nazibonzen in Gegenwart noch einiger anderer zu richten. Er fügte übrigens noch hinzu: "Wir haben uns mit diesem Kindergarten so viel Mühe gemacht, daß wir nicht verstehen können, daß wir nicht in der Lage sein sollen, unseren Kindergarten auch in Zukunft selbst verwalten zu können". Die Antwort auf diese Frage lautete kurz und bündig: "Sie, mein Herr, haben hier gar nichts zu sagen. Wenn sie den Kindergarten nicht übergeben wollen, dann kann ich ja gehen. Sie werden dann ja sehen, was passiert". Ich habe mich dann eingeschaltet und darauf hingewiesen, daß wir das Unvermeidliche nicht ändern können. Der Kindergarten wurde übergeben und wir haben dann noch darüber verhandelt, daß wir wenigstens abends unser eigenes Haus für unsere Zwecke benutzen können. Diese Abmachung sollte dann später allerdings den Höhepunkt aller Auseinandersetzungen mit dem NS-Staat für mich bringen.

Die Übergabe des Kindergartens hatte für die neuen Betreiber bittere Folgen. Die Familien haben zu einem großen Teil ihre Kinder nicht mehr geschickt. Das wiederum hat die Gegensätze in der Gemeinde mit den NS-Leuten weiter sehr verschärft. Das Faß kam nun zum Überlaufen.

Ich hatte also die gnädige Erlaubnis, abends wenigstens den Bühnenraum für eigene kirchliche Zwecke zu nutzen. Dieser Raum war vom Kindergartensaal durch eine hölzerne Faltwand getrennt und lag erhöht. Während ich eines Abends oben eine Bibelstunde halten wollte, hatte sich unten die Kindergärtnerin mit einigen Mädchen vom Bund Deutscher Mädchen (BDM) versammelt, um einen Adventskranz zu binden. Dabei ging es laut und lebhaft zu. Für meine Zuhörer oben war es ganz unmöglich, noch aufmerksam zu folgen. Ich ging dann zu der Kindergärtnerin hinunter und erklärte ihr, daß das so nicht geht. Ich sagte ihr, daß ich das Recht habe, des abends ungestört in unserem eigenen Haus zu arbeiten, dies sei mir ausdrücklich versprochen worden. Ich forderte sie deshalb auf, den Saal zu räumen. Anstatt nun meiner Aufforderung zu folgen, forderte sie umgekehrt mich auf, im Namen des Kreisamtsleiters der NSV den Saal zu verlassen. Ich muß schon sagen, über so viel Unverfrorenheit einer ehemaligen Konfirmandin war ich einigermaßen verblüfft, so daß ich nur mit einer Handbewegung abwinken und bemerken konnte: "Ach, Kreisamtsleitung." Ich bin gegangen, habe meine Bibelstunde abgebrochen und habe sie aufgegeben. Die Angelegenheit brachte wieder einen Sturm der Entrüstung über die Gemeinde. Für mich hatte dieser Eklat schwerwiegende Folgen. Wenig später erschienen im Pfarrhaus zwei GeStaPo-Beamte. Ich selbst war zu dieser Zeit in Mümling-Grumbach, wo ich in Vertretung für meinen bereits zum Militär eingezogenen Nachfolger, Pfarrer Simon, Konfirmandenunterricht zu halten hatte. Meine Frau war mit den Kindern alleine daheim. Ich glaube, das war wohl für meine Frau die schwerste Aufregung ihres Lebens. Die Herren durchwühlten das ganze Arbeitszimmer und nahmen dann einige Bücher und das Kollektenbuch mit. Während der Durchsuchung des Amtszimmers lag oben im Schlafzimmer auf meinem Nachttisch das Buch von Niemöller "Vom U-Boot zur Kanzel". Mein Nachfolger in Mümling-Grumbach hatte mir zum Geburtstag dieses Buch geschenkt, das damals verboten war. Vorn im Buch standen als Widmung die Worte: "Während der Haft des Verfassers und trotz polizeilichem Verbot in Pforzheim erstanden und seinem lieben Freund und Kollegen Friedel May zum 29. Juli 37 geschenkt...". Wenn die Herren dieses Buch mit dieser Widmung unten zwischen den Büchern entdeckt hätten, dann wären gleich zwei drangewesen. Für mich lag eine Einladung auf dem Tisch, nach der ich mich am übernächsten Tag bei der GeStaPo-Zentrale in Darmstadt zu melden hatte.

Was das bedeuten konnte, davon hatten wir schon einiges gehört. Wie wir durch besondere Kuriere, die von Pfarrhaus zu Pfarrhaus fuhren, erfahren hatten, konnte man sich auf schlimme Folgen gefaßt machen. So wußten wir, daß zum Beispiel in Rheinhessen nachts ein Pfarrer im Nachthemd aus dem Bett geholt, auf einen LKW geladen, ein Stück weg gefahren, wieder abgeladen und zu Fuß heimgeschickt worden war. Es geschah so mancherlei, womit man unliebsame Leute einschüchtern und zum Schweigen bringen wollte. Einer unserer Kuriere aus dieser Zeit war der (illegale) junge Pfarrer Neff aus Unter-Mossau, der viel mit seinem Motorrad unterwegs war. So wußten wir, daß einige Pfarrer, die der BK angehörten, in Konzentrationslagern saßen.

Die Einladung nach Darmstadt vor die GeStaPo ließ nichts Gutes ahnen. Dementsprechend habe ich mich für diese Reise vorbereitet. Vor allem hatte ich mir meine Bibel eingepackt. Dort, wo in Darmstadt heute das neue Theater steht, stand damals noch das alte Großherzogliche Palais. Das war der Sitz der GeStaPo in Hessen. Als ich an das Hauptportal dieses Gebäudes kam, klingelte ich an der Haustüre. Aber es regte sich nichts. Ich klingelte noch einmal, aber es geschah wieder nichts. Ich versuchte es ein drittes Mal. Da riß einer ein Fenster auf und brüllte mich an: "Wenn's jetzt wieder im Schloß rasselt, dann werfen sie sich gefälligst gegen die Tür und machen, daß sie hereinkommen." Gesagt, getan, es klappte. Die Tür fuhr hinter mir gleich wieder ins Schloß. Ich war wie gefangen. Ich stieg die Treppe hoch, um ins Zimmer 134 zu gelangen, wie es für mich auf der Einladung angegeben war. Aber da brüllte mich wieder einer auf den ersten Stufen an: "Menschenskind, wo wollen sie denn hin, sie können doch hier nicht so einfach herumlaufen. Melden sie sich gefälligst erst bei mir an". Nachdem ich mich vorschriftsmäßig angemeldet hatte, konnte ich dann in Richtung 134 starten. Dort klopfte ich an. Eine mürrische Stimme: "Warten sie draußen, bis sie gerufen werden". Ich wartete draußen. Ich mußte lange stehend vor der Türe warten. Um mich herum viele ausländische Gesichter. Es waren wohl Dienstverpflichtete, wir waren ja im Krieg 1941. Endlich wurde ich vorgelassen. Ein GeStaPo-Mann namens Dengler (Ergänzung Ekkehard May: Es handelte sich um den SS-Untersturmführer >> Georg Albert Dengler) nahm das Verhör vor. Vor ihm auf dem Tisch ein dickes Aktenbündel. Ich konnte deutlich als Aufschrift meinen Namen lesen. Mir wurden alle meine Sünden vorgehalten, die mich in diese peinliche Lage gebracht hatten. Es müssen wohl eine ganze Menge von Berichten gewesen sein, die der GeStaPo ein ausführliches Bild von meinen ‚Vergehen' gegeben haben. Wer weiß, wer sich da alles ein rotes Röckchen verdienen wollte. Schließlich fragte mich der hohe Herr: "Wollen sie nicht lieber einen anderen Beruf ergreifen?" Mein Vorgänger in Vielbrunn hatte das getan, wie man mir erzählt hatte. Ich habe das nicht nachgeprüft. Aus dem Pfarramt war er ausgeschieden. Ich gab zur Antwort, ich hätte nicht die Absicht, das Pfarramt aufzugeben, ich wollte lieber Pfarrer bleiben, so lange wie möglich. Hiernach griff der Herr Dengler zum Telefon und sprach mit seinem Chef, wie ich gleich feststellen konnte, denn er schnappte sich mein Aktenbündel, steckte es unter den Arm und forderte mich auf, ihm zu folgen. Ich folgte ihm zum Chef der GeStaPo. Als wir das Zimmer betraten, saß (man kann auch sagen: lag) der hohe Herr in seinem Sessel vor dem Schreibtisch, streckte seine Beine weit von sich und rief mir zu: "So, das ist der Kerl aus Vielbrunn, dann mal rein mit ihm." Ich weiß nicht, wie ich dazu kam, bei diesem ungewöhnlichen Empfang zu grinsen. Das war natürlich das allerletzte, was ich hätte tun dürfen. Der Chef sprang auf und vor mich hin und schrie mit geballten Fäusten "Was, sie lachen auch noch? Das werden wir ihnen heute gründlich austreiben". Er schäumte vor Wut. Ich zitterte vor Angst. Dann schien er sich wieder beruhigt zu haben. Mit sanfter Stimme fragte er mich dann: "Sagen sie mal, was haben sie denn da mit dem Vielbrunner Mädchen?". Ich machte daraufhin ein dummes Gesicht. Mir war völlig unbegreiflich, was diese Frage denn eigentlich sollte. "Von wegen Kreisamtsleitung Scheiße und so", fuhr er fort. Mein Gesicht muß dann wohl noch dümmer ausgesehen haben. Er darauf: "Er stellt sich dumm, da weiß er natürlich von nichts". Ich wußte wirklich nicht, was das sollte und sagte ihm das auch. Er kam dann auf den Zwischenfall mit der Kindergärtnerin im Kindergarten zu sprechen, wo ich diese aufgefordert hatte, den Kindergartensaal zu verlassen, damit ich meine Bibelstunde halten konnte. Sie hatte also angegeben, daß ich in diesem Zusammenhang gesagt habe: "Kreisamtsleitung Scheiße". Das mußte und konnte ich mit vollem Recht bestreiten. Er ließ sich aber in keiner Weise davon abbringen, daß ich dies gesagt habe. Mir wurde vielmehr klargemacht, daß die Kindergärtnerin für ihn viel glaubwürdiger sei als ich. Und daß sie unter dem Schutz der GeStaPo stünde. Immer wieder kamen dann die Worte: "Geben sie es nur zu, sie können mit ihrem Leugnen ihre Situation nur noch verschlechtern". Er drohte mir fortlaufend mit dem Konzentrationslager. "Stellen sie sich vor, was das für ihre Frau und ihre Kinder bedeuten würde, wenn sie über Weihnachten im KZ sitzen würden". Es war Adventszeit. Er versuchte es dann noch damit, daß er sagte: "Nun, es kommt ja vor, daß man im Eifer etwas sagt, woran man sich nachher nicht mehr so genau erinnert. So wird es ihnen hier sicher auch gegangen sein. Geben sie das ruhig zu, es ist ja auch gar nicht so schlimm". So versuchte er auf jede Weise, mir doch noch ein Geständnis abzuringen. Ich blieb unverändert bei meiner ersten Aussage. Schließlich wurde ich von dem Beamten Dengler wieder hinausgeführt. Er brachte mich in ein kleines Zimmer, das nur hoch oben ein ganz kleines Fensterchen hatte. Später sagte mir jemand, daß dies in früheren Zeiten das Badezimmer des Großherzogs gewesen sei. Da saß ich nun. Mir war noch gesagt worden, ich müsse auf das Urteil warten. Von Zeit zu Zeit steckte einer seinen Kopf herein und sagte, das Urteil über mich sei noch nicht gesprochen. Es wurde 15 Uhr bis mir gemeldet wurde, ich könne für heute gehen, das Urteil würde mir später mitgeteilt. Ich machte, daß ich hinauskam und suchte die nächste Telefonzelle. Ich rief meine Frau an, die schon gar nicht mehr damit gerechnet hatte. Sie atmete hörbar auf. Ich konnte auch aufatmen, nachdem ich sechs Stunden in diesem unheimlichen Hause verbringen mußte.

Es vergingen zwei Monate, bis ich erneut nach Darmstadt vorgeladen wurde. Diesmal wurde mir das Urteil verkündet. Es hieß: "Eigentlich wollten wir sie ja ins KZ stecken. Wir haben uns aber entschlossen, sie noch einmal laufen zu lassen. Sie müssen allerdings einen Revers unterschreiben". Der wurde mir vorgelegt. Ich sollte unterschreiben, daß ich in Zukunft staatspolitisch nicht mehr in Erscheinung treten werde, andernfalls würden die 500 Mark, die ich als Sicherheitsgeld hinterlegen müsse, der NSV zufallen. Ich erklärte, daß ich das nicht unterschreiben könne, wenn das bedeutet, daß ich mich in einer Sache strafbar mache. Ich weigerte mich, zu unterschreiben, und sagte: "Es kann doch leicht sein, daß irgendeinem meine Nase nicht paßt, er braucht nur einen Bericht zu machen, und so bin ich dann wieder staatspolitisch in Erscheinung getreten und bin 500 Mark los". Es ging dann eine Weile hin und her. Ich habe schließlich unterschrieben. Es blieb mir sowieso keine andere Wahl. Ich mußte ja froh sein, daß ich so davonkommen sollte.

Das Geld habe ich mir als Darlehen bei "meiner" Kirchenleitung in Darmstadt ausgeliehen und in Raten abziehen lassen, denn so viel Geld hatte ich nicht flüssig. Mein Monatsgehalt lag weit darunter. Ich hätte mir das Geld auch bei meinem Schwiegervater borgen können. Er hatte sich angeboten, es mir zu geben. Doch mir lag daran, daß diese Kirchenleitung wenigstens in diesem Punkt ein wenig Solidarität beweisen sollte. Die GeStaPo hat dann in dem Sparbuch, auf welches das Geld einbezahlt werden mußte, mit roter Tinte einen Sperrvermerk eingetragen. Zur Sicherheit, damit ich ja nicht an das Geld heran konnte. Da ist es dann auch stehengeblieben bis zur sogenannten Währungsreform nach dem Krieg. Meine Frau hat damals eine entsprechende Abwertung bekommen. Die Schuld bei der Kirchenleitung war bereits abgetragen.

Am 13. April 1942 kam für mich die große Wende! Ich wurde einberufen zur 13. Luftwaffenfelddivision nach Essen-Kupferdreh. War das ein Glück. Irgend ein Engel muß da seine Hand im Spiel gehabt haben. Nun war ich die GeStaPo los. Das Konzentrationslager war gnädig an mir vorübergegangen. Es ist kaum zu glauben, aber ich habe mich über die Einberufung mächtig gefreut. Für mich kam jetzt ein ganz neuer Lebensabschnitt. Bei den Soldaten kam ich mir vor wie einer, den man in Erholung geschickt hat. Keine Angst mehr vor ungerechtfertigten Beschuldigungen, keine GeStaPo, keine Parteifunktionäre und keine Berichte mehr!! Die Trillerpfeife bestimmte fortan den Tageslauf. Ich war gerne Soldat. Ich lebte richtig auf. Ich habe als einziger in der Kompanie während der Ausbildung zwölf Pfund zugenommen. Die Kameraden haben abgenommen während der Ausbildung, die alles andere als leicht war. Wir waren ja alle schon etwas älter und keine Jünglinge mehr. Was die zahllosen Aufregungen daheim mich an Kraft und Nerven gekostet hatten, das habe ich bei den Soldaten alles wieder aufgeholt. Ich habe die Ausbildung in Essen-Kupferdreh tatsächlich als eine schöne Zeit in Erinnerung.

[Friedrich May]
© Copyright Ekkehard May

dieser auszug wurde veröffentlicht in:
"gelurt". Odenwälder Jahrbuch für Kultur und Geschichte, Ausgabe 2001
Erbach 2000, herausgegeben vom Kreisarchiv des Odenwaldkreises
ISBN: 3-9804066-6-0