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Herbstmorgen

Im Herbst nach trüben Regentagen
wollt es die liebe Sonne wagen
und wieder schöne Tage spenden
das Sonnengold in Füll verschwenden.

Der Vögel Gunst wollt sie erwerben,
die gute Laune nicht verderben
bei denen, die noch hier geblieben,
als andre zogen nach dem Süden.

Die Schwalbe und die Nachtigall
sind längst schon über Berg und Tal,
und viele andre mitentschweben,
die nur ein Gastspiel hier gegeben.

Doch klage nicht mein traurig Herz,
ergib dich nicht dem Abschiedsschmerz:
ist doch der munterste Geselle
wie alle Jahre noch zur Stelle.

Du hörst ihn durch das ganze Jahr,
das ist der sangesfrohe Star.
Er bleibt ja immer bei uns wohnen,
drum will die Sonn den Schwarzrock lohnen.

Schon frühe schickt sie ihre Strahlen,
die ihm sein Häuschen hell bemalen,
so will sie ihm nach langem Regen
die Bitterkeit vom Herzen fegen.

Wie ihn die Sonn so angelacht,
hat er die Augen aufgemacht.
Verwundert spricht er zu Frau Star,
die neben ihm im Neste war:

Da sieh doch nur, was für ein Tag,
daß man nicht länger schlafen mag.
Der Tau liegt glitzernd auf den Wiesen,
ei, das ist Wetter zum Genießen.

Schnell fliegen sie zum Loch hinaus
und setzen sich aufs Nachbarhaus.
Sie wolln sich rasch in Ordnung bringen
und dann ein muntres Liedlein singen.

Was sich des Nachts verworren hat,
das streichen jetzt die Schnäbel glatt.
Sie rupfen, zupfen, kämmen, bürsten
und sind dann stolz wie edle Fürsten.

Ihr Röcklein glänzt wie schwarze Seide,
die weißen Tupfen wie Geschmeide.
Stolz werfen sie sich in die Brust
in übergroßer Lebenslust.

Jetzt werden noch zu guter letzt
die langen Schnäbel frisch gewetzt.
Und nach vollbrachter Toilette
beginnen sie nun um die Wette.

Sie zwitschern, flöten, jubilieren,
sie schnalzen, gurren, tirilieren
ihr schönstes Lied in Dur und Moll,
die zwei gebärden sich wie toll.

Schier grenzenlos ist ihre Freude
beim Glanz der Morgensonne heute.
Die Regentage sind vergessen,
wo sie betrübt im Nest gesessen.

So singen sie an diesem Morgen
ganz unbeschwert und ohne Sorgen,
indess die Sonne fröhlich lachte,
weil sie die zwei so lustig machte.

Nachdem das Paar sich müd gesungen
und auch der letzte Ton verklungen,
hat sich der Hunger eingestellt,
der sie mit Allgewalt befällt.

Das aber bringt sie nicht in Sorgen,
Der Herbst gibt reichlich heut und morgen.
Und schöne, fette, grüne Weiden
wird Gott den Sängern gern bereiten

die sich so viele Müh gemacht
und ihm ein Liedlein dargebracht
zu Lob und Dank, gar süß und hold
im schönsten Morgensonnengold.

[Friedrich May, © Ekkehard May]